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Verantwortung übernehmen: Tiere in der Sozialtherapie

05 Okt 2021

Verantwortung übernehmen: Tiere in der Sozialtherapie

Auch in der sozialtherapeutischen Arbeit spielen Tiere eine wichtige Rolle. Zur Gemeinschaft Altenschlirf im Vogelsberg etwa gehört – wie auch in anderen anthroposophischen Lebensgemeinschaften – ein landwirtschaftlicher Betrieb, im dem Menschen mit und ohne Assistenzbedarf gemeinsam Sorge für die ihnen anvertrauten Tiere tragen. Seit einiger Zeit ist der Demeter-Betrieb zudem ins Thema Fleischveredlung eingestiegen, um noch stärker Teil der Wertschöpfungskette zu werden.

Von Laura Krautkrämer

Die Gemeinschaft Altenschlirf ist eine anthroposophisch orientierte Lebensgemeinschaft für Menschen mit und ohne Assistenzbedarf. In idyllischer, dörflicher Lage im hessischen Vogelsberg leben und arbeiten rund 340 Menschen zusammen. Seit der Gründung im Jahr 1987 gehört die Demeter-Landwirtschaft zu den zentralen Werkstätten. Die drei Landwirte Ludwig Frevel, Paul Kolass und Michael Rath bewirtschaften gemeinsam mit derzeit sieben Beschäftigten die beiden Standorte in Altenschlirf und Stockhausen. Landwirtschaftliche Urproduktion und Sozialtherapie gehen in besonders schlüssiger Weise Hand in Hand: Wer hier arbeitet, erlebt täglich die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit, übernimmt Verantwortung für die Tiere, für Äcker und Wiesen. „Das Herz des landwirtschaftlichen Organismus ist die Viehhaltung, vor allem die Milchviehherde und die dazugehörenden Kälber“, erklärt Ludwig Frevel. „Die Bedürfnisse der Tiere strukturieren unseren Tag. Und im Umgang mit den Tieren wird die Wahrnehmungsfähigkeit geschult – ihr Verhalten gibt mir direkte Rückmeldung zu meinem Handeln.“

Handlungspädagogischer Ansatz

„Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen die Menschen mit Hilfebedarf – sie sind schließlich der Grund dafür, dass es diese Werkstatt überhaupt gibt“, betont Paul Kolass. Er und seine Kollegen verfolgen einen handlungspädagogischen Ansatz, der alle Beschäftigten aktiv einbindet und beteiligt – so kann sich jede und jeder als Teil des Ganzen erleben. Das kann Jan Schreiber nur bestätigen: „Mir macht eigentlich alles Spaß. Besonders schön ist es, die Kühe zu versorgen“, sagt er. „Ich lege ihnen Heu vor und versorge sie mit ihrem Essen. Und ich freue mich, wenn sie sich bei mir ihre Streicheleinheiten abholen.“ Auch Dennis de Nuccio nennt sofort die Kühe, als er nach seinen Lieblingstieren und bevorzugten Arbeiten gefragt wird. „Vor allem das Melken ist gut, das schaffe ich sogar mit Ludwig allein“, berichtet er mit hörbarem Stolz. Er übernimmt dann das Dippen, also die Desinfektion und Pflege der Zitzen. Jens Schmitz dagegen mag besonders gern die Schweine, bei deren Versorgung er unter anderem mithilft: „Ich finde, das sind angenehme, ruhige Tiere“, sagt er.

Entsprechend den Prinzipien der Demeter-Landwirtschaft gibt es in Altenschlirf ein ausgewogenes Zusammenspiel von Feldbau, Grünland, Tierhaltung und Düngung. Außer den Bedürfnissen der Tiere prägen auch Jahreslauf und Wetter die Arbeit und verlangen von den Mitarbeitenden durchaus Flexibilität. Die Tätigkeiten sind breit gefächert: Neben täglich wiederkehrenden und damit stabilisierenden Aufgaben wie dem Füttern oder Ausmisten gibt es auch solche, die je nach Jahreszeit anfallen. Manche Arbeiten werden allein ausgeführt, andere in Teams, in denen sich verschiedene Fähigkeiten ergänzen können. „Jeder findet einen Bereich, in dem er seine Fähigkeiten einbringen und ausbauen kann“, so Ludwig Frevels Erfahrung. Neben der Erzeugung gesunder Lebensmittel legt er auch großen Wert darauf, die Kulturlandschaft Vogelsberg zu erhalten und mitzugestalten: „Jeder, der hier in der Landwirtschaft arbeitet, kann täglich miterleben, wie sich seine Tätigkeit auf die Qualität der Erzeugnisse und das Wohlbefinden der Tiere auswirkt.“

Während die konsequente Aufzucht der Bullenkälber vor Ort ebenso wie Optimierungen im Bereich der Schweinehaltung noch in der Planungsphase sind, ist die Hühnerhaltung schon seit Jahren gut aufgestellt. Es gibt 70 bis 80 erwachsene Hennen, dazu kommen rund 60 Junghennen im Mobilstall, den die Holzwerkstatt der Gemeinschaft gebaut hat. Darunter sind auch Bruderhähne, die nach und nach für den Eigenbedarf selbst geschlachtet werden. Es gibt einen Brutautomaten, mit dem die eigenen Eier ausgebrütet werden können, zusätzlich setzen die Landwirte Glucken zum Brüten ein.

Verwertung vom Kopf bis zum Schwanz

Seit einiger Zeit macht sich Paul Kolass Gedanken darüber, wie die Werkstatt noch stärker Teil der Wertschöpfungskette werden kann. Dabei stellt das Thema Fleischveredlung einen wichtigen Baustein dar. „Wir waren über 30 Jahre ein Urproduktionsbetrieb, es gab Milch, Fleisch, einiges Getreide, das zu vermarkten war“, erklärt er. „In Zukunft wollen wir auch die Veredlung stärker selbst übernehmen – aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch, weil dies mit der Gemeinschaft als direkter Abnehmerin unserer Produkte einfach naheliegend ist.“ Diese Entscheidung ergebe auch aus sozialtherapeutischer Perspektive Sinn, findet er: „Hier können die kompletten Prozesse direkt nachvollzogen werden.“

Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutet die intensivierte Fleischveredlung. Paul Kolass hat diesen Bereich Anfang 2020 von seinem Kollegen Michael Rath übernommen und lässt jetzt alle vier bis sechs Wochen für den Eigenbedarf der Gemeinschaft schlachten. „Wir haben das große Glück, dass wir in Stockhausen mit der Metzgerei Günther einen kleinen, selbständigen Betrieb haben“, sagt er. „Ich bringe die Kuh oder das Schwein dorthin und bleibe auch dabei, bis das Tier getötet ist.“ Danach hat er zwei Tage Zeit, einen Plan auszuarbeiten, was er in welcher Form von den Tieren aufbereitet haben will. Gewürze und Salz für Wurst liefert er selbst, Nitritpökelsalz bleibt bewusst außen vor. „Sobald man nicht nur für den Eigenbedarf produziert, sind die Auflagen, etwa an die Hygiene, sehr streng. Deshalb haben wir diesen Teil ausgelagert“, erklärt der Landwirt. „Ich möchte gerne möglichst bald mit der Metzgerei einen sogenannten Hofverarbeiter-Vertrag abschließen, damit wir Fleisch und Wurst auch über den Eigenbedarf hinaus vermarkten können. Bisher steht auf unserer Ware noch nicht mal Bio, geschweige denn Demeter, weil der Metzger nicht entsprechend zertifiziert ist.“

Was seit einiger Zeit als vermeintlich neuer, nachhaltiger Kochtrend unter der Bezeichnung „From Nose to Tail“ („Von der Nase bis zum Schwanz“) kursiert, ist eigentlich die traditionelle Herangehensweise: Alle Teile der geschlachteten Tiere sollen Verwendung finden, nicht nur Edelteile wie Filet oder Kotelett. „Das ist völlig anders als die moderne Schlachtung in Großbetrieben, die nur ausgewählte Stücke vermarkten und den Rest dann nach Tansania oder anderswo verschiffen“, betont Paul Kolass. Ein spannender Lernprozess auch für die Hausgemeinschaften, dennoch gelingt es stets, auch für Teile wie die Leber Abnehmer zu finden. Das gilt auch für die Knochen – die nutzt das Gasthaus Schmidts, ein Inklusionsbetrieb der benachbarten Fachschule Campus am Park in Stockhausen, um einen klassischen Fonds zu kochen.

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