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Plötzlich aus dem Alltag herausgerissen

22 Mai 2020

Plötzlich aus dem Alltag herausgerissen

Lauterbacher Anzeiger vom 27. Mai 2020 von Oliver Hack

Noch bis 5. Juni gilt das Betretungsverbot für Behindertenwerkstätten / Was bedeuten die Corona-Einschränkungen für Klienten von „Kompass leben“ und der Gemeinschaft Altenschlirf?

VOGELSBERGKREIS. „Ich freue mich so, bald die ganzen Mitarbeiter wieder zu sehen und die Pflanzen und die ganze Natur“, sagt Miriam Belle. Bereits seit 25 Jahren lebt und arbeitet die 44-Jährige aus dem Raum Frankfurt in der Gemeinschaft Altenschlirf. Sie fühlt sich dort wohl, in ihrem durch die Mitarbeiter gut strukturieren Alltag, zwischen Hausgemeinschaft und Arbeitsplatz. Miriam Belle ist in der Gärtnerei der Gemeinschaft beschäftigt. Eine Arbeit, die ihr viel Freude bereitet. Eigentlich. Denn seit den Corona-Einschränkungen ist vieles anders.

Die Pandemie krempelt seit rund zweieinhalb Monaten den Alltag der Menschen gehörig um. Was für viele Normalbürger schon oft eine, wenn auch meist als sinnvoll erachtete Zumutung ist – etwa Maskenpflicht und Kontakteinschränkungen –, ist für betreute Menschen mit geistigen Behinderungen oft noch schwieriger einzuhalten und nachzuvollziehen – so zum Beispiel, wenn ihre Alltagsstruktur, etwa die Arbeit in den Werkstätten, wegfällt oder sich plötzlich völlig verändert. Für die Werkstätten gilt seit Wochen ein Betretungsverbot, das vorerst bis zum 5. Juni verlängert wurde. Auch wenn es seit dem 10. Mai ein paar Lockerungen gibt. So können nahe Verwandte die Klienten wieder für maximal eine Stunde pro Wochebesuchen – dies natürlichnur unter Einhaltung der entsprechenden Hygienevorschriften, wie etwa dem Tragen von Gesichtsmasken.

Das freut Miriam Belle sehr, die erklärt, die letzten Wochen „ganz gelassen“ genommen zu haben. Angst habe sie keine gehabt. Nur die wöchentlichen Treffen mit ihrem Freund habe sie sehr vermisst. Auch wenn die Werkstätten noch nicht wieder betreten werden dürfen, für die Gemeinschaft Altenschlirf brachte die Lockerung noch eine wichtige Änderung mit sich. Denn anders als in vielen anderen Einrichtungen, arbeiten und leben die Bewohner, wie der Name schon sagt, in einer Gemeinschaft. „Wir freuen uns, dass eine von uns mit Nachdruck geforderte wichtige Ausnahmeregel hinzugefügt wurde. Nämlich, dass eine Ausnahme von dem Betretungsverbot besteht, wenn Hausgemeinschaften und Werkstätten in unmittelbarer räumlicher Nähe liegen und nur Menschen dort begleitet werden, die auch im angeschlossenen Wohnbereich leben“, erklärt Tobias Raedler von der Geschäftsleitung Wohnbereich in der Gemeinschaft Altenschlirf. Diese Ausnahmeregel stellt überdies die mit dem Gesundheitsamt des Vogelsberg getroffene Vereinbarung, nämlich die Werkstatträumlichkeiten zu Zwecken der Tagesstrukturierung häuserweise zu nutzen, nun auch verordnungsrechtlich auf sichere Füße. „Das bringt viel Entspannung in die räumliche und soziale Enge der ausschließlichen Betreuung in einer Hausgemeinschaft und hält das Zwei-Milieu-Prinzip aufrecht“, so Raedler. Auch wenn Miriam Belle die Kontaktverbotszeit eher gelassen genommen hatte, für viele Bewohner stellte es schon eine besondere Härte dar, auf den Kontakt zu ihren Angehörigen verzichten zu müssen. „Die Gemeinschaft Altenschlirf nimmt ja überregional Bewohner auf, die nach dem besonderen Konzept einer sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft suchen, und viele Bewohner hatten sich auf einen Besuch ihrer Verwandten zur Angehörigentagung gefreut, die dann nicht mehr stattfinden konnte“, erklärt Ulrike Härtel, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit in der Gemeinschaft.

Auch für die Mitarbeiter des Wohnbereiches seien die letzten Wochen „besonders intensiv“ gewesen, da die Bewohner der Hausgemeinschaften aus den alltäglichen Abläufen herausgerissen wurden, und es nicht einfach war, allen den Sinn dieser Maßnahmen zu erklären“, so Härtel weiter.

Den Mitarbeitern der Werkstätten wurde eine besondere Flexibilität abverlangt: Einerseits muss in einigen Werkstätten der Betrieb von den Mitarbeitern aufrecht erhalten werden, zum Beispiel bei den Lebensmittel und Hofläden, der Landwirtschaft, Gärtnerei und Bäckerei – andererseits wurden viele Werkstattmitarbeiter zur Gestaltung der Tagesstruktur der Bewohner der Hausgemeinschaften abgezogen, konnten nicht mit den eingearbeiteten Beschäftigten ihrer Werkstatttätigkeit nachgehen, sondern mussten aus dem Stand sinnvolle Tagesgestaltungen entwickeln.

Neben den Einschränkungen im Werkstattbetrieb wurde vor der Neuregelung auch der Kontakt zwischen den einzelnen Hausgemeinschaften vermieden. Dies bedeutete neben der Entbehrung gepflegter Freundschaften vor allem auch den Verzicht auf das gemeinsame Kulturleben mit seinem stark gemeinschaftsbildenden Charakter.

Als sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft ist die Gemeinschaft Altenschlirf in 15 familienähnlichen Hausgemeinschaften dezentral organisiert, in welchen die Hausverantwortlichen (Bezugsbetreuer) mit ihren Familien gemeinsam mit den Bewohnern dauerhaft in einer Hausgemeinschaft zusammen leben. Das Leben innerhalb der Hausgemeinschaften konnte daher ohne starke Einschnitte in gewohnten Bahnen verlaufen – in etwa so, wie es auch andere Familien erlebten, die zwar nicht mehr in die Schule oder zur Arbeit gehen, zu Hause aber eben doch so leben durften wie bisher.

Die Corona-Kontaktbeschänkungen haben aber, laut Raedler, auch dafür gesorgt, dass „eine ganz neuen Nähe entstanden ist, die in den Hausgemeinschaften auch dort erlebbar wurde, in denen Bewohner teilweise schon Jahrzehnte miteinander zusammenleben und die sich nun noch einmal ganz neu begegnen und kennenlernen konnten“. Besonders eindrücklich sei es auch gewesen, zu erleben, dass in den Werkstätten, die ja auch ohne die Bewohner weiter laufen müssen, die Beschäftigten tatsächlich fehlen, „also eigentlich für den Betrieb gar nicht entbehrlich sind“. „Sie sind eben nicht nur an einem Produktionsoder Dienstleistungsprozess mehr oder weniger aktiv beteiligt, sondern sie tragen maßgeblich zum Produktionserfolg des Werkstattbetriebes bei, und es ist eben nicht unbedeutend, ob sie da sind oder nicht.“

Das erzwungene Herunterfahren vieler Prozesse, die sonst in einer so großen Gemeinschaft mehr oder weniger reflektiert ablaufen, biete überdies „Räume, über Wichtigkeit und Notwendigkeit der gewohnten Abläufe nachzudenken und womöglich in einer Zeit nach der Krise altgewohnte Abläufe neu zu überdenken und etwas Positives mitzunehmen“, wirft Geschäftsleiter Raedler einen Blick auf die Zeit nach der Pandemie. Ansonsten zeige „die Entbehrung liebgewonnener Traditionen auch, was man an ihnen hat und vermisst, wenn es eben wegfällt und lässt so eine ganz neue Wertschätzung für die Dinge, die sonst so normal sind, entstehen“. Bewährt habe sich die intensiv gepflegte Selbstverwaltungsstruktur der Lebensgemeinschaft mit der großen Autonomie der Einzelbereiche, die dadurch auch in der „erzwungenen Vereinzelung“ handlungsfähig blieben und auch die Krisensituation meistern konnten. Miriam Belle erinnert sich an viele schöne Erlebnisse, etwa dass Mitarbeiter der Werkstätten mit der Wohngemeinschaft viel unternommen haben, etwa Spaziergänge.

Auch „Kompass leben“ stellten die Corona-Pandemie und die Kontaktbeschränkungsmaßnahmen vor große Herausforderungen. „Das Betretungsverbot für Menschen mit Behinderungen in den Werkstätten an den Standorten Herbstein und Altenburg hat eine komplette Veränderung der internen Abläufe verursacht“, erklärt Frank Haberzettl, Vorstand des Fachbereichs Arbeit und Bildung der Werkstatt in Altenburg-Alsfeld. Die Klienten, die in den Werkstätten beschäftigt sind, verbrächten ihren Tag derzeit in den Wohnstätten. Hier seien
sie in die Tagesstrukturen der Wohnstätten mit eingebunden, das heißt: Sie befinden sich täglich von 7.30 bis 15.30 Uhr in der Tagesbetreuung. „Dabei werden viele Gesellschaftsspiele gespielt, verschiedene Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt, gepuzzelt oder auch mal ferngesehen. Bei gutem Wetter wird, immer unter Einhaltung der Hygienevorschriften und Abstandsregelungen, das Leben auch in den Garten verlegt. Auch kann man vereinzelt spazieren gehen“, zählt Haberzettl die Angebote auf. Für diese neuerlichen Abläufe betreuten derzeit die Teams aus den Werkstätten und aus den
Wohneinrichtungen die Klienten rund um die Uhr.

Nur durch den Einsatz des Werkstattpersonals während des Tages sei eine Umsetzung aller Vorschriften und Maßnahmen in so kurzer Zeit möglich gewesen. Eine große Herausforderung sei nach wie vor die sich ständig verändernde Lage.

Die Klienten zeigten aber zum größten Teil großes Verständnis für die Situation, jedoch litten aber gerade selbstständige Bewohner sehr unter den Einschränkungen. „In unserem Beruf haben wir es immer auch mit Menschen zu tun, die die Ursachen und die Tragweite der Veränderungen nicht erfassen können. Hier ist eine besonders sensible Zuwendung notwendig. Auch der plötzliche Kontaktverlust zur Familie stellt für uns alle, insbesondere aber für unsere Bewohner, einen schweren Verlust dar“, fasst Jörn-Peter Hülter, Leiter der Wohnstätte und des Ambulant Betreuten Wohnens (ABW) in Alsfeld die Situation zusammen. Gerade die Klienten benötigten in dieser Zeit ein verstärktes Gefühl der Sicherheit. „Die Arbeit bei Kompass Leben lebt vom zwischenmenschlichen Kontakt, diesen plötzlich in solcher Weise einschränken zu müssen, ist ein großer Einschnitt für die Klienten“, so Hülter. Sascha Diederich, Leiter der Wohnstätte und des ABW in Herbstein und Lauterbach erhofft sich nun durch die Lockerungen des Betretungsverbots in den Werkstätten ab dem 5. Juni für das Personal wie auch für die Klienten eine schrittweise Wiedererlangung der Normalität. „Das ist eine äußerst außergewöhnliche Situation für alle, und die für die Klienten so wichtigen Strukturen sind derzeit nicht mehr vorhanden. Gerade in der Anfangszeit war es nötig, viele Informationen mit den Klienten aber auch mit dem Personal auszutauschen. Die Veränderungen haben viele Unsicherheiten mit sich gebracht; jedoch wird die Stimmung innerhalb der Wohneinrichtungen als durchaus positiv bewertet“, versichert Diederich. Besonders bitter für die Klienten: Geplante Ausflüge oder auch mehrtägige Reisen wurden bis auf Weiteres abgesagt – Aber auch hier wurde versucht, coronakrisentauglichen Ersatz zu finden. „Es war es für die Bewohner daher eine willkommene Abwechslung, als das Personal auch einmal Eis aus der Herbsteiner Eisdiele bestellt hatte“, so der Wohnstättenleiter.

Im Bereich des Ambulant Betreuten Wohnens sind die Maßnahmen allerdings so ausgeprägt, dass Besuche nur schwer möglich sind. Das Personal könne nicht mehr in die Wohnungen der betreuten Menschen gehen – allenfalls könne ein Gespräch im Freien oder per Telefon stattfinden. Aber auch bei den Terminen im Freien werde immer auf den notwendigen Abstand und die Schutzmaßnahmen geachtet. Einkäufe würden in vielen Fällen für die Klienten anstatt mit den Klienten erledigt, so Diederich.
Und neben den alltäglichen Aufgaben ist für das ABW-Personal nun ein großer neuer Aufgabenblock hinzugekommen: die Sensibilisierung der Klienten für die aktuelle Situation. Die Fragen, die immer wieder geklärt werden müssen, sind: „Warum sind Hygienemaßnahmen wichtig? Was macht das Virus mit uns? Wie soll ich mich im Alltag verhalten?“ – Veränderungen fielen grundsätzlich schwer, und da sei Verständnis „in all unseren Bereichen unglaublich wichtig“, versichert er weiter.

Für Miriam Belle aus der Gemeinschaft Altenschlirf ist es vor allem wichtig, bald wieder ihre Arbeit in der Gärtnerei aufzunehmen, da sie weiß, dass sie dort gebraucht wird. So verwandeln sich vor Ort die abstrakten Lockerungen von Maßnahmen aus Wiesbaden wieder in konkretes Leben.

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