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Mitten im Leben - 40 Jahre Gemeinschaft Altenschlirf

12 Jul 2022

Mitten im Leben - 40 Jahre Gemeinschaft Altenschlirf

Lauterbacher Anzeiger vom 12.07.2022 von Carsten Eigner

40 Jahre Gemeinschaft Altenschlirf: Nicht nur Teilhabe, sondern Arbeitgeber und Motor gesellschaftlicher Entwicklung

STOCKHAUSEN (eig). Als kurz nach Pfingsten 1982 die im Herbst des Vorjahres von kaum mehr als einer Handvoll Engagierter gegründete „Gemeinschaft für Heilpädagogik und Sozialtherapie“ die alte Villa außerhalb von Altenschlirf erwarb, um dort eine Lebensgemeinschaft auf anthroposophischer Grundlage zu gründen, da konnte niemand ahnen, dass damit der Grundstein für den heute wichtigsten Betrieb und Arbeitgeber in der Großgemeinde Herb- stein gelegt war. Vor allem aber wurde damit ein großer gemeinsamer Wohn- und Arbeitsraum für Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen. 40 Jahre nach ihrer Gründung blickte die Gemeinschaft Altenschlirf anlässlich ihrer Jubiläumsfeier im Schlosspark von Stockhausen nicht bloß zurück, sondern in ihrer Perspektive auch vorwärts. Sinnbildlich dafür steht das neue Magda- Hummel-Haus, das älteren und pflegebedürftigen Bewohnern und Bewohnerinnen der Gemeinschaft ein barrierefreies Zuhause bietet und das fast zwei Jahre nach seiner Fertigstellung jetzt seine formelle Einweihung erlebt hat.

Ein kleines Eröffnungskonzert stand am Beginn der Feier
Ein kleines Eröffnungskonzert stand am Beginn der Feier

„Wir wollen einen kleinen internen Festakt veranstalten und nicht wie normalerweise um diese Zeit den Johannimarkt, den die Pandemie auch in diesem Jahr noch nicht zugelassen hat. Doch es soll dies auch ein Festakt sein, innerhalb dem wir als Gemeinschaft und auch mit den Ange- hörigen wieder zusammenkommen kommen können. Und man merkt bei dieser kleinen internen Feier, wie groß doch unsere Gemeinschaft innerhalb von 40 Jahren geworden ist“, begrüßte Geschäftsleiter Tobias Raedler im Anschluss an den Eröffnungschor „Was ist höher als hoch?“ die im Freien versammelten Bewohnerner und Bewohnerinnen und die zahlreichen Gäste der Feier. Zu Letzteren gehörten auch Ortsvorsteher Daniel Schrimpf, Bürgermeister Bernhard Ziegler, Kreisbeigeordneter Hans-Jürgen Schäfer, Bundestagsabgeordneter Michael Brand sowie Rico Weißbach von der Lebensgemeinschaft Sassen/Richthof und Benjamin Andrae vom Anthropoi Bundesverband.

„Der heutige Festakt ist nur Teil eines ganzen Festjahres. Es ist eine Tradition bei uns, dass wir bewusst den Jahreslauf erleben“, so Raedler. In diesen zwölf Monaten widme man sich auch zwölf Themenfeldern, entsprechend der vor fünf Jahren erarbeiteten hauseigenen „Kulturfibel“ zur Kultur des Miteinander-Lebens. „Gemeinschaft ist ohne Begegnung nicht vorstellbar“, erklärte Raedler, der die Geschichte der Gemeinschaft Altenschlirf kurz skizzierte. Heute leben rund 140 Menschen mit Assistenzbedarf in 16 Wohngemeinschaften und arbeiten in 13 unterschiedlichen Werkstattbereichen. Sie werden dabei von rund 220 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt und begleitet.

Die bisherige Geschichte der Gemeinschaft habe sich dabei gewissermaßen in Entwicklungszyklen alle fünf Jahre vollzogen. Raedler erwähnte auch den Waldorf-Kindergarten auf Schloss Eisenbach und die Fachschule „Campus am Park“, die aus der Gemeinschaft hervorgegangen sind. Mit dem Magda-Hummel-Haus, benannt nach der 2014 verstorbenen Mitbegründerin der Gemeinschaft Altenschlirf, sei das letzte Puzzleteil im bereits vor 40 Jahren formulierten Konzept der Lebensgemeinschaft gekommen. „Es ist kein Zufall, dass wir die Einweihung heute feiern, im 40. Jahr unseres Bestehens, in dem sich wieder ein Zyklus vollendet. Zudem wäre Magda Hummel in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden“, sagte Raedler, der im weiteren Verlauf auch der Michael-Stiftung und der Software-AG-Stiftung sowie der Aktion Mensch für die finanzielle Unterstützung dankte.

„Menschen haben sich zu einer Gemeinschaft zusammengefunden auf Grundlage gemeinsamer Werte und der Anthroposophie“, meinte Raedler, der auch einen Blick auf die Gegenwart und die Zukunft der Gemeinschaft warf. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention könne man zur Ansicht kommen, das Konzept der Lebensgemeinschaft für Menschen mit Behinderung sei überholt. „Ich glaube das nicht“, so Raedler. Denn viele prominente Besucher der Gemeinschaft seien zur Ansicht gekommen, dass hier seit Jahrzehnten inklusives Leben in der Praxis stattfinde. Auch Skeptiker seien heute überzeugt. Die hochwertigen Produkte aus den Werkstätten der Gemeinschaft seien mittlerweile von sich aus marktfähig und würden dem ersten Arbeitsmarkt standhalten. Und ohne die Gemeinschaft Altenschlirf sei auch der tegut-Markt in Stockhausen nicht denkbar. Die Menschen der Gemeinschaft seien daher längst nicht mehr nur Teilhabende, sondern auch Teilgebende.

Vom Vorstand der Gemeinschaft dankte Heike Cimander den Menschen, die sich 2013 zusammengefunden hätten, um das Projekt des Wohnens für Menschen mit einem höheren Assistenzbedarf anzugehen, nämlich Heinke Bosselmann, Norbert Venschott, Rose-Marie Jöckel, Harald Schmiedl, Ingrid und Stefan Huss, Corinna Kuchenbuch, Markus Fischer und Tobias Raedler. Und da keine Idee ohne die physische Umsetzung auskomme, gehe ein besonderes Lob an den Architekten Markus Fischer sowie Andreas Geipel. Das Gebäude des Magda-Hummel-Hauses werde sowohl architektonischen wie auch praktischen Ansprüchen gerecht.

„Ihre Gemeinschaft hat Leben in unsere Orte gebracht“, hob Bürgermeister Bernhard Ziegler in seinem Grußwort hervor. Von einem einzigen Haus zu Beginn habe sie sich zu ganzen Vierteln in den Dörfern Altenschlirf, Schlechtenwegen und Stockhausen entwickelt. Dass Herbstein heute neben Lauterbach die einzige Kommune im Altkreis mit gleich vielen Einpendlern und Auspendlern sei, könne maßgeblich auf das Wirken der Gemeinschaft zurückgeführt werden. Diese biete heute Arbeitsplatze für Jeden und sei ein Segen für die Stadt Herbstein. „Dieser Flecken Erde ist mit Bedacht gewählt worden. Dieser Ort ist Seelenproviant“, bekannte Michael Brand in seinem Grußwort und würdigte das in 40 Jahren durch die Gemeinschaft Altenschlirf Geschaffene. Es treffe das bekannte Zitat von Erich Kästner zu: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Michael Brand überreichte ein besonderes Geschenk – ein kleines Bruchstück der Berliner Mauer. Es stehe für ein Wunder. „Ein Wunder kann sich ereignen, wo Menschen aufeinandertreffen“, sagte er mit Blick auf die Gemeinschaft.

Im Anschluss an den Festakt hatten die Besucherinnen und Besucher im Rahmen der alle 15 Minuten stattfindenden Führungen ausgiebig Gelegenheit, das Magda-Hummel-Haus und dessen bauliches Konzept kennenzulernen. Das Gebäude in Form einer Lemniskate ist vollkommen barrierefrei gestaltet und beinhaltet auf knapp 1470 Quadratmetern Flache 16 Zimmer für Bewohnerinnen und Bewohner, zwei Zimmer für Kurzzeitpflege sowie je einen großen und kleinen Therapieraum und einen Tagesstrukturbereich. Zudem gibt es eine eigene Wohnung für die mit im Haus wohnende Hausfamilie.

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